Sind „demokratische Betriebe“ am Ende Anarchokapitalismus?

Marktsichel

„Wir wollen doch nur demokratische Betriebe…“

Wenn ich mit Linken diskutiere und aufzähle, wie oft sozialistische Experimente in der Realität gescheitert und am Ende autoritär geworden sind, höre ich meist: „Wir wollen keinen autoritären Staat – uns geht’s nur um demokratische Betriebe ohne Zwang.“ Kürzlich bin ich über ein Video gestolpert, das genau hier ansetzt und zeigt, warum diese Position – konsequent zu Ende gedacht – erstaunlich nah an einer staatenlosen Marktordnung landet. Das fand ich spannend, weil es einen blinden Fleck in vielen Debatten berührt: Was bleibt übrig, wenn niemand mehr zwingen darf?
Zum Video: Public vs Private – ich fasse die Kernideen unten dicht zusammen und ordne sie ein.


TL;DR – mein Kurz-Resümee

Wenn Freiwilligkeit ernst gemeint ist, sind „demokratische Betriebe“ private Zusammenschlüsse, die über Verträge, Preise und Wettbewerb koordiniert werden. Genau diese Koordination ist das Funktionsprinzip eines freien, staatenlosen Marktes. Wer also „nur demokratische Betriebe“ ohne Zwang will, beschreibt praktisch Anarchokapitalismus – ob man das Label mag oder nicht. Ich sage nicht, dass alle Linken das wollen; ich sage, dass die Logik dorthin weist, sofern Zwang wirklich tabu ist.


Begriffe

Ich merke, wie oft Debatten an Definitionen vorbeilaufen. Deshalb meine Arbeitsbasis:

  • Privat = Individuen oder freiwillige Gruppen (auch Co-ops!), die sich per Vertrag organisieren.

  • Öffentlich = die Hierarchie eines Gemeinwesens (Staat, Räte, Syndikate), die Regeln erzwingt und sich zwangsbasiert finanziert (Steuern, Pflichtbeiträge).

  • Kapitalismus (klassisch-liberal): Private Kontrolle über Produktionsmittel plus freie Preisbildung. Das ist nicht „Pro-Großkonzern“, sondern pro Dezentralität und Haftung.

  • Sozialismus (allgemein): Vergesellschaftung der Produktionsmittel – oft staatlich, kann aber nicht-staatlich gedacht sein (z. B. anarcho-sozialistische Netzwerke, Syndikalismus, Commons). Entscheidend ist: Gibt es Zwang von außen? Wenn nein, bewegen wir uns privatrechtlich; wenn ja, sind wir in öffentlicher Hierarchie.


Historische Brücke 

Was ich an dem Video mochte: Es erklärt, warum „öffentlich“ historisch Hierarchie bedeutet – und wie das Individuum überhaupt erst auf der Bühne erscheint.

1) Antike Familie als „Privat-Tempel“
In frühen griechisch-römischen Ordnungen warst du nicht „du“, sondern Teil eines Familienkults. Am Herdfeuer wurden Ahnen verehrt; der Familienvater hatte religiöse und rechtliche Autorität. Eigentum war familiär gebunden, Verkauf stark eingeschränkt – es gehörte nicht „dir“, sondern dem Kult der Gens. Mehrere Familien schlossen sich zu Phratrien/Curien, später zu Stämmen und schließlich zur Stadt zusammen: eine aufeinandergetürmte Hierarchie.

2) Vom Häuslichen zum Öffentlichen
Dieses Stufenmodell – Familie → Phratrie/Curie → Stamm → Stadt – erzeugt das, was wir „öffentlich“ nennen: das übergeordnete, normsetzende, hierarchische Gemeinwesen. „Public“ war wörtlich das Oben. „Privat“ hieß: unten und klein (Haus, Werkstatt, Hof).

3) Der Sprung: das moralische Individuum
Mit dem christlichen (genauer paulinischen) Motiv der persönlichen Verantwortlichkeit entsteht eine revolutionäre Idee: Du wirst unabhängig von Klan und Kult moralisch adressiert. Das Individuum gewinnt Kontur. „Privat“ meint fortan nicht nur die kleine Einheit (Familie/Betrieb), sondern auch den einzelnen Rechtsträger.

4) Moderne Spiegelung
Wenn Firmen „an die Börse gehen“, nennen wir das „going public“: Eigentum und Kontrolle werden gesellschaftlich verteilt (breiter Anteilserwerb, neue Hierarchien, Compliance). Große Plattformkonzerne wirken in dieser Logik wie „Mini-Staaten“ mit eigenen Regeln – sie sind nicht „der Staat“, aber hierarchisch öffentlich im Sinne von: übergeordnet, regelsetzend, nicht-haushaltlich. Das Bild hilft, „öffentlich“ als Hierarchie und nicht romantisch als „für alle gut“ zu verstehen.


Kernargument: Warum „demokratische Betriebe“ ohne Zwang in die Staatenlosigkeit führen

Hier verdichtet sich mein Aha-Moment beim Video:

  1. Freiwilligkeit ⇒ Vertrag
    Wenn niemand Eintritt, Beiträge oder Regeln erzwingen darf, bleibt Privatrecht: Du trittst bei, solange es dir passt. Das ist exakt der Spielplatz, auf dem Anarchokapitalismus operiert – nicht als Ideologiezwang, sondern als Vertragsfreiheit.

  2. Preissignale statt Planungslücke
    Knappheiten und Alternativen sichtbar zu machen, gelingt über Preise. Ohne freie Preise wird Koordination blind (klassischer Einwand gegen Planwirtschaft). Demokratische Betriebe brauchen diese Signale – also Markt. Das ist ein funktionales, kein „rechtes“ Argument.

  3. „Absterben des Staates“ ernst genommen
    Nimm die linke Hoffnung wörtlich: Wenn die öffentliche Hierarchie wirklich verschwindet, bleibt ein Netz freiwilliger Ordnungen (Co-ops, Verbände, DAOs). Die Meta-Koordination zwischen ihnen läuft dann nicht per Befehl, sondern über Verträge, Reputation, Wettbewerb. Funktional: anarchokapitalistisch.

  4. Größe ist kein Beweis für „öffentlich“
    Eine Co-op mit 10.000 Mitgliedern bleibt privat, solange sie Außenstehende nicht zwingen kann. „Öffentlich“ beginnt dort, wo Zwangsmonopol und Abgabepflicht greifen.


Ein paar verbreitete Missverständnisse 

„Kapitalismus = Großkonzerne“
In der Praxis wachsen Konzerne oft mit Staat: Regulierungsarbitrage, Subventionen, Bailouts. Freier Wettbewerb + Haftung schrumpfen aufgepumpte Strukturen. Das ist anti-korporatistisch.

„Demokratische Betriebe sind das Gegenmodell zum Markt“
Nein. Demokratie beschreibt interne Governance, nicht die externe Koordination. Extern bleibt es Tausch – also Markt.

„Ohne Staat entstehen Monopole“
Dauerhafte Monopole brauchen Schutz (Zoll, Lizenzregime, Exklusivrechte). In offenen Ordnungen sind Monopolrenten Angriffsfläche für Neueinsteiger.


Nuancen & faire Gegenargumente von links (kurz adressiert)

Ich will das nicht als Strohmann-Debatte. Es gibt linke Ideen, die ich ernst nehme:

  • Anarcho-Sozialismus/Syndikalismus: Föderierte Räte, Commons, Ostrom-Logik, Peer Governance. Konter: Solange Beitritt/Beitrag freiwillig bleibt und Außenstehende nicht gezwungen werden, agieren diese Strukturen privatrechtlich – funktional marktkompatibel (auch wenn man das Wort nicht mag).

  • „Preise sind nicht alles“: Stimmt – aber ohne Preise bleiben Opportunitätskosten unsichtbar. Du brauchst zumindest Marktnähe oder surrogate Signale (handelbare Rechte, interne Token/Abrechnungen).

  • „Es braucht einen Schiedsrichter“: Ja – aber wettbewerblich: Schiedsgerichte, Versicherungen, Verbandsrecht. „Schiedsrichter“ heißt nicht „Monopol-Staat“.

  • „Demokratische Betriebe mindern Machtasymmetrien“: Intern oft ja. Extern bleiben aber Tausch, Exit-Rechte und Reputation die wichtigsten Checks & Balances – ganz unabhängig von der internen Verfassung.

Mein Punkt ist nicht: „Linke liegen falsch“. Mein Punkt ist: Wenn Zwang tabu ist, dann beschreiben linke Idealbilder (genossenschaftlich, föderal, commons-basiert) faktisch eine polyzentrische Privatordnung – also die Spielregeln, die Libertäre/AnCaps seit Jahrzehnten modellieren.


Historische Pointe – ohne Romantisierung

Die Erzählung „Wir verwalten nur Dinge, der Staat stirbt ab“ kippt in der Realität schnell: Sobald Preise gedeckelt, Eigentum nivelliert und Tausch eingeschränkt wird, werden Knappheiten unsichtbar, Anreize reißen – die Koordination stottert. Umgekehrt: Wo Akteure freiwillig kooperieren und Rechtsdurchsetzung über Vertrag/Schiedsgericht organisiert ist, stabilisieren sich Signale und Haftung. Das Video macht gut klar: Es geht nicht um Moralvokabeln, sondern um Funktionslogik.


Praxis: Wie sieht das konkret aus?

  • Co-ops & ESOPs: Arbeiterbeteiligung, demokratische Governance – aber marktexponiert.

  • DAOs/Verbände/Branchen-Schiedsgerichte: Private Regelsetzung, die über Reputation und Vertragsbindung trägt.

  • Haftung & Skin in the Game: Ohne Rettungsnetze diszipliniert der Markt alle Organisationsformen – auch demokratische.

Ich finde das gerade als Unternehmer spannend, weil es die Diskussion weg von Etiketten, hin zu Anreizen, Haftung und Exit-Rechten schiebt.


FAQ – kurz, ehrlich

Sind demokratische Betriebe automatisch gerechter?
Intern oft fairer, ja. Aber Fairness ohne externe Disziplin (Preis, Wettbewerb, Exit) kippt schnell in Ineffizienz.

Brauchen wir gar keinen gemeinsamen Rahmen?
Doch – aber wettbewerblich: Verträge, anerkannte Schiedsstellen, Versicherungsrecht. Ein Monopol-Schiedsrichter erzeugt selbst Machtasymmetrien.

Wie verhindert man Ausbeutung ohne Staat?
Durch Exit (wechseln/aussteigen), Wettbewerb um Arbeitskräfte/Kund:innen, klare Eigentums- und Vertragsrechte und Reputation. Zwangsmonopole sind gefährlich, nicht freiwillige Deals.


Quelle & weiterführend

  • Diskussionsauslöser und viele der oben paraphrasierten Gedanken stammen aus diesem Video (sehr empfehlenswert):
    👉 YouTube: Public vs. Private


Was lernen wir also?

Ich sehe eine überraschende Konvergenz: Wer „nur demokratische Betriebe“ will ohne Zwang, beschreibt eine Welt, in der Privatordnungen über Verträge, Preise und Wettbewerb kooperieren. Genau das ist die Funktionsweise des Anarchokapitalismus – nicht als Kultwort, sondern als Mechanismus.
Und genau deshalb lohnt es sich, die Debatte nüchtern zu führen: nicht „links vs. rechts“, sondern Welche Institutionen erzeugen welche Anreize – und wie gut halten sie Fehlverhalten aus?

Der Open Mind Market steht genau für das, worum es in diesem Artikel geht: freie Märkte, mündige Entscheidungen und die Idee, dass Aufklärung besser wirkt als Verbote. Ein kleines Stück praktischer Liberalismus – in Produktform.